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Titel
Ein klerikales Jahrzehnt?. Kirche, Konfession und Politik in der Bundesrepublik während der 1950er Jahre


Autor(en)
Buchna, Kristian
Erschienen
Baden-Baden 2014: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
613 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Kösters, Kommission für Zeitgeschichte

Es zählt zu den historisch bedingten Besonderheiten der Geschichtsschreibung in Deutschland, dass die zeitgeschichtliche Erforschung des deutschen Katholizismus und Protestantismus konfessionell getrennt verläuft. Dies hat zu differenzierten Ergebnissen, aber zugleich auch zu verengten Sichtweisen und geschichtlichen Deutungen geführt. Umso nachdrücklicher werden schon seit Jahren konfessionsvergleichend angelegte Studien eingefordert. In seiner von Andreas Wirsching betreuten Dis¬sertation ist Kristian Buchna diesen «dornigen, gleichwohl unumgänglichen Weg» (A. Liedhegener) gegangen. Buchna löst das Desiderat überzeugend und in einer Weise ein, die Maßstäbe setzt.

Waren die Gründerjahre der Bundesrepublik ein «klerikales Jahrzehnt»? Die Titelfrage führt mitten in ein zeit- und historiographiegeschichtlich heftig umstrittenes Gelände. Nicht nur ist «Klerikalismus» ein aufgeladener Kampfbegriff; die mit ihm verbundenen Strukturen, Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster werden als Beleg für ein eineinhalb Jahrhunderte andauerndes, erst in den 1960er Jahren zu Ende gehendes «zweites konfessionelles Zeitalter» (O. Blaschke) angeführt. Buchna macht es sich zur Aufgabe, die Tragfähigkeit der thesenhaften Beobachtungen zu überprüfen, um «Handlungsweisen und -grenzen kirchlicher Interessenvertretung im inner- und zwischenkonfessionellen sowie im politischen Raum nachvollziehbarer [zu] machen» (526). Dies ist ihm sowohl gedanklich als auch sprachlich vollauf gelungen.

Auf der Grundlage breiten Quellenstudiums katholischer, protestantischer und staatlicher Aktenüberlieferungen historisiert Buchna in beeindruckender Weise die maßgeblichen Akteure, die historischen Bedingungen ihres Handelns, die konfessionell gelagerten Konflikte und die mit ihnen verknüpften Semantiken und Diskurse. Tradierte Geschichtsbilder insbesondere der beiden Kirchen gelangen so auf den Prüfstand, lange Zeit als gesichert geltende Ergebnisse der zeitgeschichtlichen Katholizismus- und Protestantismusforschung werden differenziert, neu bewertet und ggf. revidert: Anders als bisher verbreitet angenommen, stand die politische Kultur der jungen Bundesrepublik nicht im Zeichen eines konfessionellen Friedens, sondern im Gegenteil einer (Re-) Konfessionalisierung (523).

Als Seismograph konfessioneller Spannungen und Erschütterungen in Kirchen und Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit der Adenauer-Zeit dienen dem Verfasser die beiden kirchlichen Vermittlungsstellen zu den politischen Parteien und zur Regierungsadministration in Bonn: das vom Kölner Prälaten Wilhelm Böhler (1891–1958) dominant geführte, sogenannte «Katholische Büro» des «Beauftragten des Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenzen bei der Bundesregierung» (337) und das vom lutherischen Prälaten und Militärbischof Kunst (1907–1999) geleitete «Amt des Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland» (296). Entgegen mancher öffentlichen Äußerungen Böhlers und Kunsts verfolgten beide vor allem ein- und dasselbe kirchenpolitische Ziel, nämlich die Gesetzgebung im Sinne kirchlicher Interessenswahrung zu beeinflussen (148, 159, 278, 376). Ihre Aufgabe sahen sie keineswegs nur als «weltlichen» Lobbyismus (20−22), sondern zugleich als religiös – naturrechtlich bzw. pastoral – begründet an. Und die Rahmenbedingungen und Möglichkeiten, ihren Auftrag zu erfüllen, waren wohl nie so günstig wie in den Gründerjahren der Bundesrepublik (395).

Allerdings bewegten sich Böhler und Kunst dabei in einem konfessions- und kulturgeschichtlich von tiefen Gräben durchzo-genen Spannungsfeld, das sie nach 1945 durch ihren Gestaltungsanspruch in der je eigenen Kirche, in Abgrenzung zur anderen Konfession und in Auseinandersetzung mit den politischen Kräften weiter aufluden. Konfessionelle Entladungen wie der vielzitierte «Ochsenfurter Zwischenfall» (358− 361) waren signifikant für die deutsche Nachkriegsgesellschaft und wirkten folglich auf die neu gegründete christdemokratische Partei Adenauers keinesfalls nur irritierend, sondern bedrohlich (348−350; 523).

Um seine «(Re-)Konfessionalisierungs-These» abzustützen, spürt Buchna konfessionellen Organisationsformen, Denk- und Verhaltensmuster beider Kirchen auf gleich drei, komplex miteinander ver-schränkten Ebenen nach: 1. dem Konfes-sionalismus innerhalb der Konfessionen (konfessionsintern), 2. dem Konfessionalismus gegen andere Konfessionen (religionsintern) und 3. dem Konfessionalismus durch Besetzung religionsfremder Bereiche (systemextern) (23, 350). Der Verfasser begnügt sich indes nicht damit, die Entwic-lungen der katholischen und evangelischen Kirche parallel zu verfolgen. Denn erst die konsequent beide Kirchen wechselseitig aufeinander beziehende Konfessionsperspektive führt zu erhellenden Befunden:
– über die geradezu gegensätzliche Ausgangslage einer hierarchisch-straff organisiert auftretenden, von Beginn an ihre Interessen offensiv einfordernden katholischen Kirchenvertretung einerseits und die durch nationalprotestantisches Erbe und Bekenntnisstreit nach 1933 konfessionell tief gespaltenen, sich 1945 mühsam neu organisierenden evangelischen Kirchen andererseits (37−229);
– über das diesen Ausgangspositionen zugrundeliegende theologische Selbstverständnis der mit naturrechtlich begründe-tem Wahrheits- und Gestaltungsanspruch auftretenden katholischen Kirche hier und des gerade in der Frage des weltlichen, mithin kirchenpolitischen Engagements äußerst kontrovers streitenden Protestan-tismus dort (230–347);
– über die dynamischen Auswirkungen des wechselseitigen, durch «alte» konfessionelle Fremdbilder aktualisierten und permanenter Konkurrenz bestimmten konfessionellen «Seitenblicks» (369–394);
– über die daraus erwachsenden, zwangsläufig unterschiedlichen kirchenpolitischen und medialen Strategien bei der Institutionalisierung der kirchlichen Verbindungsstellen sowie dem Aufbau, der Pflege und der stets diskreten Nutzung des (partei-)politischen und (staatlich-)administrativen Netzwerks – ausschließlich zur CDU auf katholischer, hingegen notgedrungen auch zur SPD und FDP auf evangelischer Seite (159–162, 395–451).

Aus den von ihm dicht beschriebenen, kirchen- und religionsintern höchst wirksamen konfessionellen Spannungslagen erwuchsen der jungen Nachkriegsdemokratie nach Buchnas gut begründeter Auffassung nicht unerhebliche Gefährdungen und Belastungen (452–516). So drohten die Grundgesetzberatungen an der katholischen Intransigenz in der schulpolitischen Frage des Elternrechts zu scheitern (170–194). Die unbestreitbaren Erfolge Böhlers beim politischen Agenda-Setting bewirkten kirchenpolitische Unruhe in den Kreisen der EKD. Und mehr als einmal ächzte der «heilige» Konfessionsproporz der interkonfessionellen CDU unter den Zumutungen personalpolitischer Einflussnahmen durch die Kirchen und darauf reagierender, oppositioneller Konfessionspolemik. Kurz-um: Der Konfessionsfaktor war ein politisches Druckmittel sowohl in der Hand der Kirchen als auch der sich re- bzw. neu organisierenden, gerade in der Kirchenfrage je eigenen weltanschaulichen Vorstellungen folgenden Parteienmilieus. Dabei standen die Personen Böhlers und Kunsts stellvertretend für die verschiedenen im Ta-gesgeschäft der Bonner Republik agierenden Generationen und ihrer lebensgeschichtlich prägenden Erfahrungshorizonte aus der Kulturkampf- bzw. NS-Zeit (76–130, 232–276; 342–344).

Die Mitte der 1950er Jahre offen ge-führte Auseinandersetzung über die Klerikalisierung und Konfessionalisierung der politischen und gesellschaftlichen Kultur erscheint vor diesem Hintergrund als konfliktiver Ausbruch tiefer reichender, auf mehreren Ebenen wirksamer, aber mehr und mehr sich verschiebender Kräfte. Waren die Gründerjahre der Bundesrepublik deshalb ein «klerikales Jahrzehnt» kirchlicher und v.a. katholischer Macht-ausübung, vor deren Hintergrund die Entkonfessionalisierung in den 1960er Jahren als liberale Befreiung erscheint, wie verschiedentlich behauptet wird? In der Tat wird dem Konfessionsfaktor und den mit ihm verknüpften Konflikten künftig größeres historisches Gewicht als bisher beigemessen werden müssen. Auch hält Buchna mit seiner Kritik am weltanschaulich motivierten und darum gefährlichen (191), zuweilen auch «skuril» (470) wirkenden kirchlichen Steuerungsgebahren vor allem der katholischen Seite nicht hinter dem Berg.

Wenn der Verfasser trotz solcher von ihm freigelegter Befunde kirchlicher Einflussnahme nicht vom «Klerikalismus» als Signatur eines ausgehenden «zweiten konfessionellen Zeitalters» spricht, hat dies seinen Grund wohl nicht zuletzt darin, dass sich die Bundesrepublik nach 1945 nicht in eine konfessionalisierte, sondern vielmehr eine säkulare Richtung weiterbe-wegte. Anders als in der Weimarer Repub-lik entwickelten sich die Kirchen in diesem Kontext zu wichtigen Stützen der demokratischen Kultur in Deutschland. So paradox es scheint: Die «Klerikalisierungs-» und Konfessionalisierungs-Debatten erscheinen somit letztlich als Höhepunkt und Abschluss einer erfolgreich bestandenen Bewährungsprobe des demokratischen Staates.

Fazit: Buchna hat ein kluges und ausgesprochen gut lesbares Buch geschrieben, das einen wegweisenden Beitrag zur Kultur- und Religionsgeschichte der frühen Bundesrepublik leistet.

Zitierweise:
Christoph Kösters: Rezension zu: Kristian Buchna, Ein klerikales Jahrzehnt? Kirche, Konfession und Politik in der Bundesrepublik während der 1950er Jahre, Nomos, Baden-Baden, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 421-423.

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